Aktuell

<  zurück zur Übersicht

Vom Blatt sollte besser niemand singen

Sonntag, 26. Juni 2011

Sie sind nicht die Hauptdarsteller – und doch blickt jeder zu ihnen bang hoch. Denn die Experten, welcher über die Rangierung der Chöre entscheiden, sitzen oben auf der Tribüne, von wo aus sie einen hervorragenden Überblick haben.

CHRISTOF LAMPART

Samstagvormittag im Sirnacher Dreitannensaal. Das Lokal ist einer von drei Orten, an welchem an diesem Wochenende das Kantonale Gesangsfest vonstattengeht. Zumindest die Wettbewerbe. Und wo ein Wettbewerb stattfindet, sind nicht nur die Chöre präsent, sondern auch die Juroren nicht weit.  Martin Bütikofer aus Holzikon (Aargau) und Jürg Siegrist aus Pratteln (Basel-Land) arbeiten das erste Mal zusammen. „Wir haben uns vorher nicht gekannt…“,  fängt Siegrist den Satz an – und Bütikofer vollendet diesen „…aber wir ergänzen uns prächtig“.

 Fördern, nicht bestrafen

Jeder Chor singt zwei bis drei Lieder. Ob die Stücke den Experten gefallen, spielt dabei keine Rolle. Bei ihnen kommt es rein auf die Fakten an, auch wenn sie betonen, dass sie die Vokalensembles mit ihren Bewertungen „fördern und nicht bestrafen“ wollen. Im Zweifelsfall gibt es da schon einmal ein „gut“ anstatt einem „genügend“, besonders wenn ersichtlich ist, dass ein grosser Aufwand hinter der Aufführung steht. So hat ein Chor nicht nur einen Pianisten, sondern auch noch einen Harfenisten dabei. Dieser übertönt jedoch teilweise den Chor und schon stecken die Experten in einem Dilemma. „Sie haben sich redlich Mühe gegeben“, bemerkt Bütikofer, was übersetzt wohl bedeutet: „schade, dass die daraus nicht mehr gemacht haben“. Eine Larifari-Wertung, bei der die Experten Punkte nach ihrem Gutdünken vergeben könnten, liegt jedoch nicht drin. Vielmehr legt das auf gelbes Papier kopierte „Arbeitsprotokoll für die Jury“ klar die Beurteilungskriterien fest. Sie lauten: Stimme, Technische Ausführung, Interpretation und Ausstrahlung. Selbstredend sind diese noch in 26 weitere Unterpunkte aufgeteilt, über die aber nichts nach Draussen dringen darf – schliesslich sollen die Chöre nicht wissen, auf was besonders geschaut, bzw. gehört wird.

Nomen est omen: „Mamma mia“

Auch kein Thema ist das Alter eines Chores. Weder die ganz alten Sängerinnen und Sänger, noch ein erfrischend unkompliziert auftretender Kinderchor kommen in den Genuss eines Altersbonus. „Wir stehen hier vor der Frage, ob wir hier ein „gut“ oder ein „sehr gut“ vergeben, zumal auch die Lieder sehr ungewöhnlich und deshalb schwer zu bewerten sind. Aus pädagogischer Sicht war das spitze, aber als Experte, der das Musikalische zu bewerten hat, muss ich mich wohl eher für ein „gut“ aussprechen“, erläutert Bütikofer. Und Siegrist ergänzt: „Wir werden den Kindern aber sagen, dass sie auf einem guten Weg sind und dass, wenn sie so weiter machen, in Zukunft vielleicht sogar noch eine bessere Bewertung drin liegt“.  Weniger überzeugt sind die Experten von einem Damenchor, welcher als letztes „Mamma Mia“ singt – ein Lied der schwedischen Pop-Gruppe Abba. „Alles zu gleichförmig und zu wenig dynamisch“, notiert ein Experte, dann setzt die Dirigentin zu einem kurzen Solo an, was  der andere Experte mit der Notiz „eine gute Stimme, aber man darf doch bei einem Solo nicht vom Blatt singen; schon gar nicht an einem Wettbewerb“ quittiert. Der Kollege nickt, nachdem bei der anschliessenden Besprechung das Gehörte Punkt für Punkt durchgegangen wird.  Und dabei wird eines deutlich ersichtlich: Hier arbeiten zwei Profis harmonisch zusammen, auch wenn es von unten her nicht immer harmonisch herauf klingt.