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«Jeder Mensch will eine Heimat»

Freitag, 11. Januar 2013

Die Clienia Littenheid macht die Heimat zum Thema. Auf einen Bilderzyklus folgen nun Referate und Diskussionsabende. Der ehemalige ärztliche Leiter Markus Binswanger gestaltet diese mit.

Herr Binswanger, wie definieren Sie für sich selbst «Heimat»?

Markus Binswanger: Ich habe eine intensive Beziehung zu meiner Heimat. Meine Familie kam vor fünf Generationen aus Süddeutschland in die Schweiz, wo sie am Bodensee rasch heimisch wurde. Mein Grossvater betonte stets, dass man sich intensiv mit dem Land auseinandersetzen muss, um heimisch zu werden. Ein Migrant sollte also nicht nur die Sprache lernen, sondern sich darüber hinaus auch in der Gesellschaft engagieren und sich somit integrieren. Diese Haltung meiner Vorfahren, dass man sich Heimat an neuem Ort erschaffen kann, habe ich auch in der fünften Generation übernommen.

Friedrich Nietzsche schrieb einst «Weh dem, der keine Heimat hat!». Warum soll das für uns Menschen so etwas Bedrohliches sein, keine Heimat zu haben?

Binswanger: In meinem Verständnis zielt Heimat ins Zentrum menschlicher Existenz. Denn in der Heimatidee – wie immer diese individuell auch aussehen mag – finden Menschen die Wurzeln ihrer Identität. Und das wiederum ist meines Erachtens die Antwort auf die Frage, die sich wohl jeder von uns schon einmal gestellt hat: Wer bin ich? Wo komme ich her? Daraus folgt für mich, dass der Wunsch, eine Heimat zu haben, einem tiefen Grundbedürfnis entspricht.

Und doch scheint der moderne Menschen oft getrieben, heimatlos und entwurzelt. Das klingt nach viel Arbeit für die Psychiatrischen Kliniken. Ist dem so?

Binswanger: Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Aus meiner psychotherapeutischen Perspektive habe ich aber den Eindruck, dass die heutige Lebenswelt viele Menschen ökonomisch, werte- und beziehungsmässig überfordert. Aber auch Globalisierung, Migration und Mobilität führen oftmals dazu, dass viele Menschen keine stabile, vertrauensvolle Beziehung mehr zum Ort ihrer Herkunft haben. Das führt unter Umständen zum Gefühl von Heimatlosigkeit. Heimat kann nur dort entstehen, wo verlässliche, entwicklungsfördernde Beziehungen gepflegt werden. Ich habe das in der Klinik Littenheid oft sehr eindrücklich erlebt, wenn sich im idyllischen Littenheid Patienten erstmals aufgehoben und verstanden fühlten, hier sozusagen eine Heimat fanden. Es zeigt mir, dass Menschen sehr kreativ sind, wenn es darum geht, Heimat zu «erfinden».

Was hat Sie dazu veranlasst, diesen Vortragszyklus zu lancieren? Begriffe wie «Kunst», «Heimat» oder «Kitsch», welche in den Vortragstiteln vorkommen, bilden nicht unbedingt die Kernaufgabe der Psychotherapie.

Binswanger: Die Bilderausstellung von Dieter Hall hat uns zu diesem Zyklus inspiriert. Halls aussagekräftigen Bilder haben das Thema «Heimat» von einer neuen Seite beleuchtet, als wir dies in unserer klinischen Arbeit gewohnt sind. Wir wollen mit den beiden noch ausstehenden Abenden ganz unterschiedliche Aspekte zum Heimatbegriff diskutieren. Ich sage übrigens bewusst diskutieren, denn die Abende sind so angelegt, dass sich nach kurzen Impulsreferaten spannende Diskussionen zwischen Referenten und den Besuchern ergeben sollen. Am ersten Abend, welcher im November zum Thema Heimatschutz und Architektur stattfand, gab es bereits eine intensiv geführte Gesprächsrunde.

Muss man sich für eine Teilnahme am Zyklus anmelden oder etwas bezahlen?

Binswanger: Nein, weder noch. Wir freuen uns über alle Teilnehmer, die mit uns über die vielfältigen und interessanten Aspekte des Heimatbegriffs diskutieren möchten.

Interview: Christof Lampart