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Brutal gut: Nichts als die nackte Wahrheit

Freitag, 1. April 2011

Am Mittwoch gab es im Winterthurer Theater im Waaghaus gleich zwei Premieren. Denn es handelte sich bei Tankred Dorsts Einakter „Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben“ nicht nur um eine Schweizer Erstaufführung, sondern zugleich auch um die erste Aufführung des Theater Ariane.

CHRISTOF LAMPART

Seit Mittwochabend ist die regionale Kulturlandschaft um ein Theater reicher; und das im wahrsten Sinne des Wortes – ist man nach der Premiere versucht, festzustellen. Denn mit Tankred Dorsts „Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben“ ist dem dreiköpfigen Ensemble um Regisseur Jordi Vilardaga zweifelsohne ein ebenso grosser wie schockierender Wurf gelungen.

Schier unerträglich

Dieser „Krapp“ ist krass. Das fängt schon beim Visuellen an. Alles ist schwarz: die Bühne, die Kleidung, die Stühle. Diese  permanente Schwärze, bzw. Farblosigkeit, lässt die Gesichter der Protagonisten - und somit auch deren Persönlichkeiten - noch viel stärker hervor treten, als es die bereits schon sehr verknappte, aufs Wesentliche reduzierte Sprache tut. Das Resultat ist die nackte, von sämtlichen romantischen Anwandlungen „befreite“ Wahrheit, die, fast bis ganz zum Schluss, als Krapp (brutal-berechnend: Antonia da Silva) tot über seiner bereits gestorbenen Julia (mal berückend, mal hysterisch und dabei stets glaubhaft: Rachel Matter) zusammenbricht, ins schier Unerträgliche gesteigert wird.

Beschränkung als Programm

Tankred Dorst hat einmal geschrieben, dass er im „Krapp“ den Versuch unternommen habe, alles Überflüssige, das einer Geschichte nicht diene, wegzulassen. Und genauso setzt Vilardaga das Stück auch in Szene. Die Beschränkung auf das Wesentliche ist Programm. Emotionen brechen sich nur als Quintessenz von enttäuschter oder nicht erwiderter Liebe ihre Bahn – und nicht, weil sie eine Handlung entscheidend vorantreiben. Da sitzt man also schliesslich auf seinem Stuhl und wartet auf den Moment, indem der „Held“, Fernando Krapp, seine Contenance verliert. Doch Fehlanzeige. Wo andere Menschen das Geständnis des Partners, einen Seitensprung begangen zu haben, zu Amokläufen oder zumindest einem zerbrochenen, da vom Balkon auf die Strasse geworfenen, Blumentopf „animieren“ würde, bleibt Fernando fidel und furztrocken: „Das ist unmöglich, mich kann man gar nicht betrügen!“, lautet sein Replik an Julia, die ihren Fehltritt soeben gestanden hat.

Masslose Selbstüberschätzung

Selbst die Bewegungen wirken ab- und angemessen. Kein Wunder, geht Julia an dieser Gefühlskälte kaputt, zumal auch der sensible Graf Juan (verletzlich und impulsiv: Claudio Schenardi) der masslosen Selbstüberschätzung Krapps nicht das Geringste entgegen zu setzen hat.  Am Ende dieses ebenso aufwühlenden wie begeisternden Abends – das Publikum liess beim Schlussapplaus die Schauspieler sieben Mal vor den imaginären Vorhang treten -   bleibt die Erkenntnis, dass das Tragischste im Leben nicht die brutale Wahrheit, sondern die bedingungslose Liebe ist. Zumindest dann, wenn sie nicht erwidert wird.