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Weinfelden: Leben wie im Gefängnis

Samstag, 26. Mai 2012

Mitglieder des Historischen Vereins besuchten das Marthaheim in Weinfelden. In dem Haus hatten junge Italienerinnen gewohnt, die in der Schifflistickerei arbeiteten. Nonnen hatten für Zucht und Ordnung gesorgt und den Lohn verwahrt.

CHRISTOF LAMPART

WEINFELDEN. Im Kanton Thurgau gab es anfangs des 20. Jahrhunderts, zur Hochblüte der Stickereizeit, zahlreiche Fabriken, aber zu wenig Personal. Dieses wurde deshalb vor allem im Tessin oder in Norditalien rekrutiert und in der Nähe von Fabriken untergebracht. Auch in Weinfelden. Mitglieder des Historischen Vereins des Kantons Thurgau besuchten am Donnerstagabend ein solches Heim, das Marthaheim in Weinfelden, das frühere Gewerbeschulhaus und heutige Bildungszentrum für Gesundheit an der Falkenstrasse 2.

Marthaheim von 1906 bis 1924

In vorrangig katholisch geprägten Gegenden hiessen die Häuser, in denen die meistens minderjährigen Arbeiterinnen untergebracht waren, Marienheim, in reformierten Gegenden Marthaheim. Geleitet wurden sie vor allem von Nonnen; genauer genommen von den Schwestern vom heiligen Kreuz aus Menzingen (Kanton Zug). Weinfelden hatte in den Jahren 1906 bis 1924 ein solches Marthaheim.

Auch heute wird der Jugendstilbau, in dem zur Blütezeit der Textilindustrie rund hundert 14- bis 17jährige Mädchen untergebracht waren, von jungen Frauen benutzt, ist doch seit einigen Jahren darin das Bildungszentrum für Gesundheit untergebracht.

Nur wenige Dokumente

Was die Historikerin Verena Rothenbühler am Donnerstagabend beim Rundgang im und ums historische Gebäude herum vor gut 30 Personen zum Thema «Le ragazze del Marienheim – Textilarbeiterinnen aus dem Tessin und aus Italien im Thurgau» zu erzählen wusste, liess vermuten, dass es den Mädchen in Weinfelden nicht allzu gut ging. «Zucht und Ordnung» habe nicht nur in der Fabrik, die auf dem Gelände des heutigen Berufsbildungszentrums stand, geherrscht, sondern erst recht im Heim. Zwar gebe es nur wenige Dokumente, die über das Innenleben des Heims Zeugnis ablegten, doch da in den anderen thurgauischen Marthaheimen in Arbon, Pfyn, Münchwilen und Bürglen das gleiche Regime herrschte, sei es sehr wahrscheinlich, dass schriftliche Dokumente aus dem einen oder anderen Heim auch auf das Weinfelder Marthaheim gepasst haben dürften. Betrat beispielsweise der Firmendirektor den Fabrikationsraum, so durfte nicht mehr geschwatzt werden, und ganz generell wurden die Heranwachsenden auf Sparsamkeit gedrillt und ihre sittlich-religiöse Haltung strengstens überwacht.

Maximal Fr. 2.40 Tageslohn

Die meistens aus ärmsten Verhältnissen stammenden Heranwachsenden seien mit zwei- bis vierjährigen Verträgen geködert worden. Vor allem für die eintönigen, aber wichtigen Arbeiten wie das Schifflein-Nachfüllen oder das «Nachsehen» (visuelle Kontrolle) wurden die jungen Frauen gerne eingesetzt. 1910 beschäftigte die Textilindustrie im Thurgau 19 Prozent aller Angestellten. Doch während die Textilbarone reich wurden, waren die Tageslöhne mit maximal 2 Franken und 40 Rappen bescheiden. Davon wurden noch 80 Rappen für Kost und Logis abgezogen. Und das restliche Geld wurde den Arbeiterinnen nicht ausbezahlt, sondern bis zum Ablauf des Vertrags von einer Nonne sicher verwahrt.