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Eine Oase mitten in der Stadt

Mittwoch, 6. August 2014

Es gibt wohl wenige Städte, bei denen das Hauptgewässer jünger ist als das wichtigste Gebäude. In Wil ist das jedoch der Fall, denn der Stadtweier stammt aus dem Spätmittelalter. Er hat sich vom Fischweiher zum beliebten Naherholungsgebiet entwickelt. CHRISTOF LAMPART

WIL. Ruhig liegt er da in der Sommerhitze inmitten von Wil, der Stadtweier, der sich seit jeher ohne «h» schreibt. Ein paar Enten schnattern, ein Trauerschwan zieht seine Bahn. Das Leben spielt sich in der parkähnlichen grünen Lunge Wils vordergründig nicht im, sondern rund ums Wasser ab, denn im Gewässer ist das Baden verboten. Nicht einmal die Füsse sollte man ins kühle Nass hinein halten– auch wenn eine hölzerne Ruheplattform am Ostufer einen geradezu dazu auffordert.

Gesundheitspolizei seit 2004

Das einzige, das die Menschen seit Jahren hineinwerfen, ist Brot für die Enten und die Jungfischer ihre Angeln. Auch wenn Wil vor Jahren eine Anti-Fütter-Kampagne gestartet hat, um das schöne Gewässer vor Verschmutzung zu bewahren, so stehen doch regelmässig ältere Personen und Familien mit Kindern auf der «Japanischen Brücke» und werfen den Wasservögeln mitgebrachtes Brot zu. Auch Karpfen, welche bis zu einem Meter gross werden und sich an warmen Tagen wie diesem in kleinen Gruppen zeigen, schnappen nach den Brocken. Der Basisfisch im Wiler Hauptgewässer ist jedoch ein anderer: die Rotfeder, ein Schwarmfisch, welcher bis zu 30 Zentimeter gross wird und im Vorsommer in Ufernähe in den Kleinpflanzen laicht. Des weiteren gibt es hier Schleien, Eglis, Hechte und Edelkrebse. Letztere kamen im Jahr 2004 hinzu und sind als Aasfresser mit hohen Ansprüchen an die Wasserqualität sozusagen die «Gesundheitspolizei» im Weier.

Eine künstliche Natürlichkeit

Der Stadtweier ist mit grösster Wahrscheinlichkeit künstlich angelegt worden. Im Zusammenhang mit der Unteren Mühle, die in der Nähe stand, erscheint dies wahrscheinlich. Eine geologische Tiefenbohrung, welche die Wiler Firma Progeo in der Nähe des ehemaligen Schützenhauses am Weier durchführte, erbrachte die Erkenntnis, dass der Boden rund um den Stadtweier aus einer ungefähr drei Meter dicken Lehmschicht besteht. Darunter befindet sich eine ebenfalls gut drei Meter dicke Moränen-Ablagerung, der sich wiederum eine sechs bis neun Meter dicke Schicht aus verwittertem Fels anschliesst. Da keine Sand- oder ähnliche Ablagerungen vorhanden sind, liegt der Schluss nahe, dass der Stadtweier bewusst angelegt wurde. Um 1370 wird er wahrscheinlich auch erstmals urkundlich erwähnt, indem Frau Anna von Landenberg die Mühle in der niederen Vorstadt bei dem kleinen Weier samt Garten dem Kloster St. Gallen verkaufte. Der obere Weier, die heutige Reitwiese und das Gelände der Badi Weierwiese, wurde 1470 von Meister Hans Segmüller aus Frauenfeld im Auftrag von Abt Ulrich Rösch angelegt. Dies geschah aufgrund des enormen Verbrauchs von Fischen an den vielen Fastentagen. Der Weierdamm sollte 100 Schuh Breite und 20 Schuh Höhe vom Wasser aus aufweisen. Als Entgelt erhielt Segmüller für seine Arbeit 600 rheinische Gulden, drei Saum Wein (rund 420 Liter), vier Malter Hafer und sechs Karren Heu.

Guido Bundi, der seit Jahrzehnten die jugendlichen Fischer rund um den Stadtweier betreut und diesen so gut wie kein Zweiter kennt, hat nachgerechnet, wie gross das Gewässer ist. «Ich habe einen alten Weierplan gefunden und ausgemessen. Demnach dürfte der Stadtweier rund 12 740 Quadratmeter gross sein – was etwa 20 Prozent mehr als die maximale Grösse eines Fussballfeldes wäre. Der kleine Entenweiher ist 867 Quadratmeter gross», erklärt Bundi.

Allerlei Aktivitäten

Heute wird der Stadtweier von vielen als Naherholungsgebiet genutzt. Die Bänke rund ums Gewässer laden zum Einnehmen des Mittagsessens, zum Lesen oder zur Unterhaltung mit Freunden ein. Dasselbe gilt für die Weierwiese, die im Sommer zum kollektiven Spiel oder Sonnenbaden einlädt. Familien mit Kindern finden nicht nur beim Spielplatz in der nordöstlichen Ecke Spiel und Spass, sondern auch die Geisslein im Gehege üben auf die Kleinsten eine grosse Anziehungskraft aus. Gleich Tausende besuchen die Weierwiese am jährlich stattfindenden Musik-Open-Air, das in der Ostschweiz einen hervorragenden Ruf geniesst. Weiter sind auf dem Gelände das Klublokal des Modelleisenbahnklubs als auch das Jugendzentrum Obere Mühle, die Ludothek und – auf dem Scheibenberg – der mit Birken umstandene, älteste Tennisklub Wils, der TK Scheibenberg, mit seinen beiden ganz aus Mergel bestehenden und somit gelenkschonenden Plätzen zu finden. Das Leben rund um den Stadtweier pulsiert also – vor allem, aber nicht nur in der warmen Jahreszeit. Daran, dass Mutter Natur diesen «See» einst gar nicht in ihrem Schaffungsplan berücksichtigt hatte, denkt heute gewiss keiner mehr.