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Der Kosmopolit von Häggenschwil

Sonntag, 20. Mai 2012

Wenn Alexander Seidel über Musik spricht, gerät er ins Schwärmen. Gleich ergeht es oft seinem Publikum, wenn es dem begnadeten Countertenor zuhört. Denn der Deutsche mit russischen Wurzeln und ostschweizer Heimatgefühlen ist nicht nur sehr vielseitig, sondern dirigiert und singt meisterlich.

CHRISTOF LAMPART 

Die Schweiz hat es dem 1976 in Moskau als Sohn eines Diplomaten geborenen Künstlernatur angetan, seit sie vor knapp neun Jahren aus Berlin hierher zog. Zuerst studierte Alexander Seidel die Fächer Orgel und Chorleitung und nahm viele Kurse in Orchesterdirigieren. „Ich habe mich immer organisch weiter entwickelt. Ursprünglich lernte ich Orgel. Als ich dann mal Sänger begleitete, wollte ich wissen, wie das Singen genau funktioniert, als ich später mit Orchestern sang, habe ich mich fürs Dirigieren begeistert – und alles, was ich ausprobierte, hat mir grossen Spass bereitet, neue Einsichten und Lust auf mehr beschert“, bringt Seidel seine unstillbare Neugier nach Neuem auf den Punkt. Dass er auch Schauspielerfahrung am Theater- und Sprecherfahrung im Fernsehen hat, sind weitere Aspekte, die er aber nur am Rande erwähnt, die jedoch mitunter charakterisieren, warum andere so gerne mit dem Multitalent zusammenarbeiten. Er selbst sieht das als Stärke, denn „ich weiss, wie sich ein Musiker, ein Sänger, ein Dirigent oder ein Schauspieler in bestimmten Momenten fühlen kann – denn ich habe das alle schon durchlebt“, so Seidel.

Heimspiel am 3. Juni

Eine Sängerin, mit der er ganz besonders gerne zusammenarbeitet, „weil sie stets perfekt vorbereitet und absolut professionell arbeitet“, ist die bekannte Konzertsängerin Beatrice Voellmy aus Basel. Mit ihr geht er demnächst auf eine Duett-Tournee durch die Schweiz. „Amore & Gelosia“ (Liebe & Eifersucht) lautet der Titel des vielversprechenden Barockprogrammes, das auch zwei Mal in der Ostschweiz Halt macht. Am 27. Mai feiert es in Arbon Premiere, und am 3. Juni kommt es dann zum „Heimspiel“, tritt Seidel doch dann dort auf, wo er seit mehreren Jahren den St. Notker Chor nicht nur dirigiert, sondern zur unbestrittenen Spitzenklasse gebracht hat: in der Pfarrkirche St. Notker in Häggenschwil. Mit Musik von Schütz, Strozzi , Händel, Monteverdi und Fauré werden Seidel und Voellmy das ganze Spektrum Musik gewordener Gefühle abdecken, während Simon Menges, der junge Arboner Organist. sie an der Kammerorgel begleitet.

Grosse Liebe Musiktheater

Geht es nach Alexander Seidel, so dürfte dieses Projekt nicht das letzte in dieser Besetzung werden. Doch zugleich ist er so vielseitig und auch ambitioniert, dass es kaum vorstellbar ist, dass er in der (Ost-)Schweiz wirklich sesshaft wird. Zwar ist er seit 2010 erster Gastdirigent der St. Galler Kammersolisten, musiziert engagiert in Häggenschwil und anderen Orten und leitet erfolgreich das von ihm selbst gegründete Ensemble „New Sagittarius Consort Zürich“, doch seine wahre Liebe gehört dem Musiktheater – und diese Stellen sind hierzulande rar gesät. Kapellmeister an einem renommierten Haus - das wäre für Seidel, der schon an an Opern in Berlin wirkte und mit Grössen wie Barenboim, Masur, Herbert Blomstedt oder William Christie zusammenarbeitete, „schlicht ein Traum“. 

„Eine neue Müllerreise“

Daneben pflegt er als Sänger auch eine ganz besondere Liebe zu Liedern. Nicht ganz selbstverständlich, denn zum Beispiel Schuberts Lieder sind zwar vieles – aber nicht für Countertenor geschrieben. Doch das schreckt ihn nicht davon ab, die ebenso viel gesungenen wie auch in ihrer Interpretation enorm schwierigen Schubert-Zyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“ zu einem neuen Ganzen zu schmieden – sonst enstand „Eine neue Müllerreise“. Denn der Verfasser der beiden Gedichtzyklen um unerfüllte Liebe, Verlust und Tod, Wilhelm Müller, schrieb mehr Poems als Schubert vertonte. Diese zusätzlichen „Lieder“ deklamiert Seidel mit seiner schönen, tragenden Stimme und bildet somit eine „Brücke“ zwischen bewährter und bewunderter musikalischer Tradition und einer neuen, ureigenen Sichtweise. Und gerade das ist es, was wahrscheinlich Seidel nicht nur bei Schubert, sondern generell als Musiker voran treibt. „Ich stelle mir immer die Frage: wo will ich hin mit dem Werk und erst dann gehe ich los“, lacht er. Fehlgegangen ist er dabei noch nicht.